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Der Feuervogel



     Am östlichen Rand der Welt gab es ein nebliges Land in ewiger Dunkelheit. Wolkenberge verhüllten Felder und Hügel und versperrten die Sicht zum Himmel. Alles war in Stille und Finsternis gehüllt. Kein Tier bewegte sich im Gebüsch oder im Wald und nirgenwo waren Vögel zu hören. Der Ort war in tiefem Schlaf versunken, des Todes Bruder.

     In der Mitte dieses Landes, versteckt im Nebel, gab es einen Palast, still und eingehüllt in die Schwärze der Nacht. Im Hof des Palastes lag auf einem Bett aus kalten und harten Blumen ein bleiches, schönes Mädchen, die Herrin des in Nacht gehüllten Landes. Ihre Augen waren geschlossen und ihre Brust hob und senkte sich im langsamen Rhythmus einer Schlafenden.

     Wie lange sie schon verzaubert war konnte niemand sagen. Aber alle wußten, wie sie befreit wurde. Eines Nachts zog quer über den Himmel des schattigen Königreiches ein funkensprühendes feuriges Band. Es kreiste über dem Palast, brach durch die Wolken und - plötzlich ganz langsam - landete im Palasthof, in dem die Prinzessin schlief. Helles Licht tanzte auf den Wänden und wurde von überallher reflektiert. Das Mädchen öffnete die Augen: Das Ritual des Erwachens hatte begonnen.

     Der Feuervogel stand neben ihr und erfüllte den Palasthof mit seinem funkelndem Licht. Auf seinem Rücken, zwischen den leuchtenden Federn, saß ein Mann. Der Feuervogel hat ihn gerufen und ihm geholfen, das Mädchen zu befreien - wie es dem Mann bei seiner Geburt prophezeit wurde.

     Als der Mann vom Feuervogel abstieg, flog der Vogel in den Nachthimmel hinauf. Seine Schwingen trugen ihn immer höher hinauf. Wieder durchbrach er den Wolkenvorhang mit seiner Hitze und seiner Helligkeit und verschwand. Eine einzige schimmernde Feder fiel herab in das Blumenbett, aber weder der Mann noch die Frau schenkten ihr Aufmerksamkeit. Sie hatten nur Augen füreinander: Liebende die sich gefunden haben.

     Nach dem Verschwinden des Feuervogels teilten sich die Wolken und schmolzen dahin, der Himmel war in rosiges Morgenrot getaucht. Irgendwo in den Gärten des Palasts zwitscherte ein Vogel, den Morgen grüßend.

     Das Liebespaar konnte nur einen Tag gemeinsam verbringen. Spät am Abend, als die Dunkelheit hereinbrach - natürliche Dunkelheit diesmal - und die Schatten länger wurden, stürzte der junge Mann bewußtlos zu Boden. Mitten im Satz wurde er bleich, zitterte, stöhnte und fiel zu Boden, wo er wie ein Toter liegenblieb.

     Die Prinzessin weinte lange um ihren Geliebten und irrte vor Trauer blind durch den Palast. In ihrer Trauer spürte sie kaum, wie sie über so manchen Gegenstand im Palast fiel. Der Palasthof schien sie wieder in ihren totenähnlichen Schlaf zu rufen. Als sie sich aber wieder auf das Blumenbett legen wollte, bemerkte sie ein sanftes Glühen inmitten der Blumen. Sie fand die Feder des Feuervogels, die ihr Wärme gab.

     Nach einiger Zeit erschienen wieder flammende Schwingen am Himmel und der Palast wurde wieder von der Brillianz des Feuervogels erleuchtet. Der große Vogel wurde von der Not der Prinzessin, die die Feder hielt, gerufen. Er landete vor ihr und gab ihr mit einem Nicken seines Kopfes zu verstehen, sie solle aufsteigen.

     Sobald die Prinzessin sich auf dem Rücken des Vogels in seinem warmen Gefieder niedergelassen hatte, flog dieser los. Der Vogel flog hoch in den Nachthimmel hinein, umgeben von seiner Aura der Helligkeit. Die Prinzessin konnte auf dem Rücken des Vogels weder die Sterne über ihr, noch das Land weit unter sich erkennen, so hell war der Vogel. Irgendwann wurde der Flügelschlag langsamer und der Boden kam immer näher und wurde sichtbar. Eine desolate Landschaft mit Abgründen, tiefen Felsspalten und von Felsen übersäten Abhängen. Der Feuervogel landete am Fuß einer Steilwand. Die Schatten, die beim Flug über die Landschaft wie verrückt umhertanzten, wurden wieder länger. Der Vogel neigte seinen Kopf in die Richtung eines Höhleneinganges.

     Die Prinzessin schlich sich hinein und bemerkte, daß die Höhle bewohnt war. Eine magere Frau, in schwarz gekleidet, sang Beschwörungsformeln über ein Feuer, das kein Feuer zu sein schien, sondern eher ein Haufen rauchig schwarzen Eises. Ein dampfender Kessel war auf dem Feuer.

     Als die Prinzessin die Frau und ihren Kessel sah, begannen Erinnerungen in ihr Form anzunehmen. Sie erinnerte sich an ihre Kindheit im Palast, wie sie in vom Tageslicht erfüllten Hallen spielte. In der Nacht gab es Kerzenlicht und das tanzende Licht des Feuers im Kamin. Sie erinnerte sich an eine dunkle Schwester, die sich in denselben Hallen herumtrieb, jedoch den Schatten und das Zwielicht bevorzugte. Sie erinnerte sich daran, wie die Schwester immer haßerfüllter wurde und viele Stunden damit verbrachte, staubige Bücher zu studieren und mit fremdartigen Frauen und schwarz gekleideten Männern Umgang pflegte, die irgendwoher um ihre Interessen wußten. Eines Tages verschrieb sich ihre Schwester der Dunkelheit und wurde eine schwarze Hexe. Sie belegte das Land mit einem machtvollen Schlafzauber. Die Prinzessin sah sich nun dieser Hexe gegenüber.

     Sie handelte ohne nachzudenken, rein instinktiv: sie rannte in die Höhle und trat den Kessel vom Feuer. Der Kessel stürzte um und verteilte seinen dampfenden Inhalt in der Höhle. Ein herzförmiges Juwel sprang ebenso aus dem Kessel. Die Prinzessin fing es auf und hielt es fest (Einige Erzähler sagen, dieses Objekt sei ein lebendes Herz gewesen). Die Hexe schrie auf und verschwand.

     Außerhalb der Höhle wartete immer noch der Feuervogel. Die Prinzessin setzte sich wieder auf seinen Rücken und hielt in ihren Händen das Juwel, mit dem die Hexe den Zauber auf ihren Geliebten legte.

     Das Märchen des Feuervogels hat ein gutes Ende: Das Mädchen fand ihren Geliebten wach und am leben. Sie heirateten und am Hochzeitstag flog hoch über ihren Köpfen der Feuervogel und tanzte wie ein Stern oder eine kleine Sonne.

Dieses Märchen und das Bild entnahm ich dem Buch "Magical Beasts", der Time-Life Reihe "Enchanted World", © 1986, Seiten 84-87.

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