Der schamanische Seelenflug
Das schamanistische Paradigma in unserem Kulturkreis ist von der Grundkonzeption her individualistisch geprägt. Es existiert ein Satz an Techniken, die bei jedem Praktizierenden jedoch im Detail verschieden realisiert werden. Schwerpunkte werden bei den verschiedenen Kulturen auf die Techniken gelegt, die im jeweiligen Kontext am besten geeignet sind, das Überleben zu garantieren. Im tuvinischen Schamanismus kann das sehr gut beobachtet werden: Die einzelnen Schamanen haben gewisse kulturelle Elemente in ihrer schamanischen Praxis gemeinsam, die jeweilige Art und Weise der Umsetzung ist jedoch sehr individuell ausgeprägt.
Als tranceförderndes Instrument wird häufig die Trommel verwendet. Gerade in (neo-)schamanischen Kreisen kann man immer wieder eine regelrechte Trommelbesessenheit beobachten. Andere Instrumente wie Didgeridoo, Rasseln, Rainmakers, Klangschalen usw. sind ebenso gebräuchlich. Sinn und Zweck dieser Instrumente ist unter anderem, durch monotone Geräusche die sogenannte "sensory deprivation" zu erlangen, welche die eigentliche Trancereise erleichtert. Die Wahl des Instrumentes bestimmt auch den groben Rahmen der Reise und wie die Reise erlebt wird. Derjenige, der das Instrument bedient, sollte zumindest wissen, daß die Intention des Instrumentalisten mindestens genauso wichtig ist, wie das Instrument selbst. Die Intention wirkt auf das Spielen des Instrumentes und wird durch die Musik auf den schamanisch Reisenden übertragen. Ebenso ist ein Instrument als Abgrenzung der Reise sehr wichtig. Keine Musik - keine Reise (mehr).
In der Praxis bewährt es sich, ein Rückholsignal zu vereinbaren, welches nach einer festgelegten Zeitspanne gespielt wird, um dem Reisenden zu bedeuten, er möge von seinem Herumgetingele im Zwielicht zurückkehren. Die Trommel und das Kostüm haben im traditionellen Rahmen neben zahlreichen anderen schamanischen Bedeutungen auch Schutzfunktionen und trancefördernde Aufgaben. Fransen vor den Augen irritieren und versperren den Blick auf die alltägliche Wirklichkeit. Bereits das Anlegen des Kostüms ist trancefördernd, da das Schamanengewand selbst mit Dingen aus dem Zwielicht bestückt ist.
Dadurch allerdings wurden Schamanen in der Sowjetunion leicht ausfindig gemacht. Während der kommunistischen Ära wurden Schamanen gnadenlos verfolgt. Bereits der Besitz einer Trommel oder eines Schamanenspiegels konnte den Tod des Besitzers bedeuten. Das Schamanentum wurde auf diese Weise beinahe ausgerottet. Schamanen wurden aus Flugzeugen geworfen, weil man der zynischen Auffassung war, sie sollten ihren Seelenflug demonstrieren. Die Schamanen hatten starken Einfluß auf die Bevölkerung und standen dem sozialistischen Machtapparat dabei im Wege. Nur wenige Schamanen überlebten diese Zeit. Heute besinnen sich die sibirischen Stämme wieder und beleben die alte Tradition, die fast ausgestorben war. Der Rhythmus der Trommel und der schamanische Gesang erklingen heute wieder ungestört und bilden wieder eine Brücke zwischen Wirklichkeit und Anderswelt.
Ich selbst benutze die Trommel als tranceförderndes Instrument für den Klienten und für mich selbst als "Reittier". Tranceinduktion und eigentliche Trance erreiche ich auch ohne Trommel. Innerhalb einer schamanischen Sitzung verwende ich die Trommel gerne, um es dem Klienten leichter zu machen, in Trance zu geraten. Da es im modernen Umfeld oft schwierig ist, ohne Probleme zu trommeln, wurde recht bald die Idee umgesetzt, das "Trommeln aus der Konserve" einzuführen. Meine eigenen Trommelkonserven können Sie sich natürlich kostenfrei herunterladen, um sie auf Ihrem MP3-Player oder als CD zu gebrauchen. Ich habe zwei davon erstellt. Die erste Konserve hat eine Dauer von fünf Minuten, die zweite Konserve dauert etwa 25 Minuten. Ein Rückholsignal ist bei beiden Trommeltracks inklusive.
Der Begriff der schamanischen Reise wird heute von den einzelnen Anwendern unterschiedlich verstanden, weil es eigentlich keine wirklich präzise Definition des Bewußtseinszustandes gibt, in dem die Reise stattfindet. Diese Ungenauigkeit ist darin begründet, daß die verschiedenen Trancezustände von den Seminarleitern selten gekannt werden. Ich bin also dazu gezwungen, eine genauere Definition einzuführen. Die schamanische Reise ist eine Art von Mental- bzw. Astralwanderung. Die Erfahrung ist, wenn sie gemeistert ist, bedingt vergleichbar mit den OOBE - Erfahrungen einer völligen Abspaltung des Wahrnehmungskörpers. Die Tiefe der Trance, in der die schamanische Reise ausgeführt wird, ist für das Ergebnis nicht unbedingt von Bedeutung, wohl aber für das Erleben der Reise selbst. Je tiefer die erreichte Trance ist, desto intensiver wird das Erlebnis. Das bewußte Ausführen der Reise ist ein weiteres Definitionselement, weil es für einen Schamanen von elementarer Bedeutung ist, eine Reise durchzuführen, wenn es erforderlich ist, egal zu welcher Tageszeit und in welchem Zustand er sich befindet. Manchmal nehmen die Ereignisse keine Rücksicht darauf, wie betrunken oder wie müde Sie sind. Glücklicherweise ist so etwas sehr selten, aber es kommt vor.
Es ist wichtig ein Thema zu besitzen, welches auf der Reise bearbeitet werden soll. Reisen Sie in der Anfangszeit am besten nicht ohne klar formuliertes Thema. Gerade in der Anfangsphase lernen Sie vieles über das Zwielicht. Da eine schamanische Reise auch in der alltäglichen Wirklichkeit ein Resultat bringen soll, ist es wesentlich, auch eine Fragestellung oder ein Thema auf der Reise zu bearbeiten. Dabei ist es sehr wichtig, wie genau das Thema formuliert ist. Leichte Ungenauigkeiten in der Formulierung können durchaus zu anderen Ergebnissen führen. Es ist ein Unterschied, ob ich formuliere: "Ich will mein Krafttier suchen" oder "Ich will mein Krafttier finden". Denken Sie darüber einmal nach. Sprache ist sehr präzise in ihrer Aussagekraft.
Suchen Sie sich einen Platz in der Natur, der Ihnen gut gefällt und prägen Sie ihn sich ein. Der Platz muß nicht notwendigerweise real existieren. Stellen Sie ihn sich im Geiste vor und versuchen Sie, ihn mit allen Sinnen wahrzunehmen. Je intensiver die Wahrnehmung ist, desto mehr sind Sie an diesem Ort präsent. Suchen Sie nun eine Möglichkeit nach oben oder unten zu gelangen. Es sind ihrer Phantasie keine Grenzen gesetzt, wie der Weg oder das Transportmedium aussehen sollte. Der Tunnel (oder was auch immer) wird irgendwann einmal enden. Es könnte sein, daß Hindernisse den Weg versperren. Versuchen Sie, diese zu erkennen und zu umgehen. Wenn es gar nicht klappen will, versuchen Sie einfach einen neuen Eingang zu finden.
Eine gewisse Alltagstauglichkeit muß im Zwielicht oft neu erlernt werden. Ich weiß nicht, wie oft es den Anfängern passiert, daß Sie vor vermeintlich unüberwindbaren Problemen stehen. Oft erzählen mir Anfänger, sie würden beispielsweise im Tunnel nichts sehen außer Dunkelheit. Mal ehrlich: Was würden Sie tun, wenn Sie in einen Tunnel gehen, von dem Sie wissen, daß er keine künstliche Beleuchtung hat? Richtig! Mindestens eine Taschenlampe würde dabei sein. Nicht nur das. Sie würden sie auch anmachen um die Wände anzusehen. Nur, im Zwielicht kommen sogar gestandene Menschen, die mit beiden Füßen auf dem Boden stehen, in die Verlegenheit, nicht zu wissen, was sie in der Dunkelheit anstellen sollen, damit sie etwas sehen. Ganz Hartnäckige sagen dann: "Ja, ich habe die Fackel angemacht, aber ich sehe trotzdem nichts." — auch das ist logisch, denn es gibt ja mehrere Gründe, warum man nichts sieht. Beispielsweise das sprichwörtliche "Brett vor dem Kopf". Hier ist dieses Brett allerdings wörtlich gemeint und nicht im Sinne von "vernagelt sein" oder "dumm wie Bohnenstroh" zu sein. Wenn ihre Sicht behindert wird, können Sie auch nichts sehen. Die Lösung für das Problem führt der Anfänger dann sogar mit: Den Sichtschutz. Die Sichtblockade muß einfach abgenommen werden im Zwielicht.
Ein weiteres, typisches Anfängerproblem ist, daß berichtet wird, man käme nicht von der Stelle. In der Alltäglichkeit ist der erste Reflex, nach unten zu schauen um nachzusehen, woran das liegt, daß man die Füße nicht vom Fleck bekommt. Im Zwielicht muß man da erst einmal drauf kommen.
Der Ausgang des Weges, den Sie gewählt haben, befindet sich entweder in der schamanischen Ober- oder Unterwelt, oder einfach in der Anderswelt. Kehren Sie aus der Reise zurück, kehren Sie einfach um, gehen den Weg in die Richtung zurück, aus der Sie gekommen sind und kommen an ihrem Kraftplatz heraus. Kehren Sie immer zurück, übereilen Sie diesen Schritt nicht. Denn es ist ein Teil ihrer Seele auf Wanderschaft, und es ist einfach besser, vollständig von einer Reise wieder zurückzukommen. Die schamanische Reise ist eng verwandt mit dem luziden Traum und dem Träumen im Allgemeinen. Folgende Beobachtung ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert: Je intensiver die schamanische Reise trainiert wird, desto seltener wird es in der Nacht nichtluzide Traumereignisse geben.
Ich erlebe diesen Zusammenhang sehr deutlich. Wenn ich in einer inaktiven Phase bin, in der ich vielleicht nur dreimal im Monat schamanisch reise, dann nehmen meine Traumaktivitäten stark zu, wobei die Träume präluzid und luzid sind. In Phasen starker schamanischer Aktivität nehmen die präluziden Träume in der Häufigkeit ab, während die Luzidträume in etwa gleich häufig sind. Generell nimmt die Anzahl der luziden Träume zu, je länger und je intensiver schamanisch gearbeitet wird. Diese Beobachtung läßt den Schluß zu, daß Traumkörper und schamanischer "Reisekörper" identisch oder doch von großer Ähnlichkeit sind.
Ein traditioneller Weg nach oben ist die Leiter. Um in die Oberwelt, den Himmel, aufzusteigen, sind Leitern immer wieder gerne benutzte Hilfsmittel. Natürlich keine "echten" Leitern, sondern Himmelsleitern. Leitern als schamanische Wege sind im Mangar Stamm in Nepal, den malaiischen Stämmen der südlichen Philippinen, bei den Dudun Borneos und beispielsweise den russischen Voronezh bekannt. Die biblische Version ist die Jakobsleiter, von der Jakob träumt und dabei zusieht, wie Engel diese Leiter auf- und absteigen. Diese Himmelsleiter verbindet als axis mundi die Erde mit dem Himmel. Die Leiter als Verbindung zwischen der Erde und dem Himmel wurde in Ägypten als die Leiter des Seth bezeichnet — einmal auch als Horusleiter, wobei hier nicht der normale Horus gemeint ist, sondern Dwn-'nwy (Mittelägyptisch "Der zwei Schwingen entfaltet").
Luzide Träume sind Träume, in denen die Traumwelt äußerst wirklich ist und Sie ihre Handlungen bewußt steuern können. Sie können sehr leicht induziert werden, indem Sie folgende zwei Dinge beim Schlafengehen beachten: Sie schlafen mit der Intention ein, im Traum zu erwachen. Es wird auch immer wieder empfohlen, sich im Traum die eigenen Hände anzusehen. Als zweites stellen Sie einen Wecker auf etwa zwei Drittel ihrer normalen durchschnittlichen Schlafzeit ein. Wenn Sie dann geweckt werden, beschäftigen Sie sich eine Stunde lang mit etwas völlig anderem und legen sich anschließend wieder hin um den Schlaf fortzusetzen. In dieser zweiten Schlafphase ist die Chance luzid zu werden sehr hoch und Sie erreichen die Luzidität sehr schnell. Bevor Sie ins Bett gehen, können Sie sich auch die Füße waschen und massieren, um luzide Träume zu induzieren.
Folgende Variante der schamanischen Reise ist aus dem Keltischen abgeleitet: Sie sehen sich selbst in dem Raum stehen, in dem Sie die Reise beginnen und in dem Sie sich physisch befinden. Dann lassen Sie Nebel aufsteigen, bis dieser ihre Sicht total einnimmt. Nach kurzer Zeit verzieht sich der Nebel wieder und Sie befinden sich "auf der anderen Seite" im Zwielicht. Am Ende ihrer Reise lassen Sie einfach wieder Nebel aufsteigen, diesmal im Zwielicht, und kehren auf diese Weise wieder in den Raum zurück, von dem aus Sie die Reise begonnen haben. Diese Methode ist einfacher und oft schneller realisierbar als die herkömmliche Methode mit dem Tunnel. Die Unterscheidung von oben und unten fällt hier allerdings weg.
Das erste sinnvolle Thema, das in unserer ersten schamanischen Reise behandelt werden sollte, ist das Krafttier. Das Krafttier besitzt in den verschiedenen schamanischen Kulturen sehr unterschiedlichen Stellenwert. Jeder Mensch besitzt ein oder mehrere Krafttiere. Das Krafttier ist eine Art Verbündeter, der ihr Führer im Zwielicht ist. Es gibt viele Wege, das eigene Krafttier zu finden oder kennen zu lernen. Ein möglicher ist die Reise. Das Thema wird für die erste Reise also lauten: "Ich will mein Krafttier finden." Eine schamanische Reise sollte, wie ich schon deutlich gemacht habe, für Anfänger immer mit einem Thema verbunden sein! Die Geister sind eher zur Stelle, wenn eine präzise Intention mit der Reise verbunden wird. Später, mit fortschreitender Routine sind Freistilreisen ebenso interessant. Ich selber mache längst beides sehr gerne, obwohl ich nach wie vor eher themengebunden arbeite. Das Krafttier ist in der Regel darauf erpicht, Kontakt mit Ihnen aufzunehmen. Ist es nicht anwesend, rufen oder suchen Sie es.
Krafttiere geben sich als solche ganz leicht zu erkennen. Sie verhalten sich von der normalen Reaktion, die Wildtiere uns Menschen gegenüber haben, sehr stark abweichend und sind zutraulich. Oft sprechen diese Tiere sogar - allerdings neigen sie eher dazu, sich in Form von Handlungen oder Mimik mitzuteilen. In der ersten Reise lernen Sie ihr Krafttier kennen und spielen eine Weile mit ihm. Später können Sie sich vom Krafttier an Orte im Zwielicht bringen lassen oder zu anderen Geistern, die Ihnen in speziellen Fragen weiterhelfen wollen. Sie können mehr als ein Krafttier besitzen. Dabei hat sich herauskristallisiert, daß bei mehreren Krafttieren jedes ein eigenes Spezialgebiet hat, für das es zuständig ist. Für Kraft könnte es beispielsweise ein Bär sein, für Voraussicht ein Adler, für Tapferkeit ein Wolf. Fabeltiere sind als Krafttier nicht sehr häufig, aber auch anzutreffen. Prähistorische oder ausgestorbene Tierarten gibt es ebenso. Ihr Krafttier, das Sie als erstes finden, muß nicht notwendigerweise ihr einziges bleiben. Es gibt viele Menschen, deren Tiere von Zeit zu Zeit wechseln. Das eine Krafttier geht, um einem neuen Platz zu machen. Warum das so ist, darüber kann nur spekuliert werden. Eine Interpretation läuft darauf hinaus, daß das jeweilige Tier der Lebenssituation des Schamanen entspricht. Mein eigenes hingegen habe ich seit nun knapp zwei Jahrzehnten - also gibt es vielerlei Möglichkeiten.
Jeder Mensch reagiert verschieden auf die schamanische Reisetechnik. Eine sehr häufige Reaktion ist, daß zwar ein Kraftplatz gesehen wird und ein Eingang, aber der Reisende sich nicht fortbewegen kann. Eine häufige Ursache dafür ist, neben den bereits erwähnten unmittelbaren Eigenheiten, in der Persönlichkeit des Reisenden zu suchen. Die Erwartungshaltung oder der Zweifel ist derart groß, daß alle anderen Bewegungen behindert sind. Der Reisende steht sich buchstäblich selbst im Weg. Zweifel an der Gültigkeit oder Echtheit der Vision ist eine typische Erziehungssache im Westen. Dem Zwielicht wird die Existenz abgesprochen, da es mit der Naturwissenschaft (noch) nicht vereinbar ist. Ein sehr guter Tip, um dieses Problem anzugehen, ist, einfach während der schamanischen Arbeit davon auszugehen, daß es funktioniert. Nach der Reise und der Nachbearbeitung kann dann immer noch der Zweifler zurückkehren. Gelegentlich gibt es Menschen, die gar nichts sehen, wenn Sie die Augen schließen und sich einen Kraftplatz vorstellen sollen. Das Führen einer schamanischen Reise, indem ein Schamane einem solchen Menschen die Bilder beschreibt, die er erleben soll, kann diesen Menschen zur Vision führen. Vielleicht aber sind es eher akustisch oder sensorisch veranlagte Menschen. Also nicht gleich aufgeben, bloß weil man keinen optischen Eindruck vom Zwielicht besitzt.
Während der Reise wird oft zwischen Bildern umhergesprungen. Gerade in leichteren Trancezuständen taucht das sehr häufig auf. Das ist völlig normal und stört normalerweise nicht weiter. Mit zunehmender Übung oder Trancetiefe nehmen diese Sprünge in der Häufigkeit ab. Wenn Sie während einer Reise aus irgendeinem Grunde aus ihr herausgerissen werden, und in die alltägliche Realität zurückkehren, brechen Sie nicht gleich in Panik aus. Sie können sofort an der Stelle weitermachen, an der Sie unterbrochen wurden. Wenn Sie allerdings nicht mehr dorthin gehen, ist ein geringes Risiko eines Seelenverlustes gegeben. Normalerweise sind Sie aber mit ihren Verbündeten unterwegs, und daher ist diese Gefahr äußerst klein. Die Klarheit der Vision ist Anfangs oft etwas getrübt. Die ersten Reisen können durchaus den Eindruck erwecken, sie seien nur eingebildet, weil sie vergleichsweise leicht durchschaubar sind. Auch das ist normal. Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Reisen ist wie ein Musikinstrument, das geübt werden will, wenn es beherrscht werden soll. Ich erlebe immer wieder, daß Anfänger auftauchen und sich über den mangelnden Erlebnischarakter beschweren. Die Erwartung, daß eine Reise sofort ein 3D-Dolby-Surround Erlebnis sein muß, kann dabei sehr hinderlich sein. Meine erste Reise war auch nicht unbedingt ein Vorbild an Klarheit, ich erinnere mich bis heute daran, daß ich dachte: "So, nun habe ich mir das selber wunderbar vorgegaukelt. Einen Andenkondor als Krafttier. Wenn ich das meinem Falkenmeister erzähle, lacht der mich aus!" - Im Nachhinein stellte sich heraus, daß es vollkommen anders war und ist.
Gegenstände, die Geister Ihnen im Zwielicht anbieten, können Sie ohne Probleme mitnehmen, wenn Sie wissen, was sie bedeuten oder ob Sie sie mitnehmen dürfen. In der Regel verhält sich der Anfänger im Zwielicht wie ein kleines Kind. Selbstverständlichkeiten wie Höflichkeit, freundliche Distanz oder die normalen Umgangsformen wie zum Beispiel Fragen bei Unklarheit liegen oft sehr fern. Dadurch entstehen Mißverständnisse im Zwielicht und man kann es sich mit dem einen oder anderen Geist sogar verscherzen. Es ist aber auch so, daß die meisten Geister durchaus über ihren Entwicklungsstand informiert sind und lächelnd solche Anfängerfehler tolerieren. Es kann Ihnen allerdings passieren, daß Sie Ihnen die eine oder andere Lektion in Aufmerksamkeit zukommen lassen, damit Sie denselben Fehler nicht wiederholen.
Ein großes Problem ist die Einschätzung des Ergebnisses der Reise an sich. Wichtig dabei ist, daß die eigene Reise nur von Ihnen selbst interpretiert werden kann. Hilfestellung erfahrener Reisenden sind höchstens Anregung zur eigenen Sicht der Reise. Ein Charakteristikum der schamanischen Arbeit ist, daß Antworten oft erst sehr viel später richtig verstanden werden. Manche Sachverhalte versteht der Reisende einfach falsch und muß erst geistig reifen, um die Antwort oder die ganze Reise richtig zu verstehen. Dieser Prozeß hört niemals auf. Selbst nach Jahren der Praxis tauchen diese Schwierigkeiten noch auf. Neulinge neigen oft dazu, die Antworten absolut buchstäblich zu nehmen, oder Gefühle für bare Münze zu nehmen. Die daraus resultierenden Scheuklappen versperren die Sicht auf neue Antworten oder andere Sichtweisen. Das kann soweit führen, daß man sich in ein Universum hineinsteigert, welches durch immer mehr beschränkte Visionen determiniert wird. Dabei tritt auch gerne das Phänomen der Selbstüberschätzung oder des inflationären Egos auf. Deswegen ist es sehr gut, mit anderen Schamanen in Kontakt zu bleiben, um die eigene Vision zu beurteilen.
Leider fehlt in der westlichen überlieferten Kultur weitgehend ein kontrollierendes mythologisches Element, welches die Reise in ein festes Weltbild einbindet, wie es in traditionellen schamanischen Kulturen üblich ist. Die alteuropäische Matrix des Zwielichts beginnt jedoch wieder langsam an Popularität zu gewinnen, auch wenn es nach wie vor schwierig ist, die NS-Vergangenheit als solche zu verarbeiten, die sich viele Elemente dieser Matrix, wie beispielsweise die Runen, zu eigen machte. Dieser Mangel ist aber gleichzeitig eine große Chance, eigene und neue Mythen zu erschaffen.
Nach einiger Zeit werden Sie feststellen, daß es gewisse Regeln oder eine Art Geographie im Zwielicht gibt. Die ist bei jedem von uns verschieden und bietet für den persönlichen Mythos viel Nahrung. Schamanisten sollten sich im Laufe ihrer Arbeit langsam eine Art Landkarte zusammenstellen, auf der die wichtigsten Örtlichkeiten des Zwielichts eingezeichnet sind. Es ist eine ganze Welt dort im Zwielicht zu erkunden. Bei manchen kann dies sehr schwierig sein, da sie sich vielleicht ständig ändert, bei anderen wiederum läßt sich tatsächlich eine Art Karte zeichnen. Orte wie der Weltenbaum, der Eingang ins Reich der Toten, der Fluß der Zeit, des Schicksals, der Seelen, des Lebens und deren Quellen, wichtige Orte an denen sich Lehrer oder Spezialisten aufhalten, Landmarken wie auffällige Berge, Seen usw. usf. Das Zwielicht ist nicht unbelebt. In meinen eigenen Reisen tauchen oft unerwartete Begleiter auf: Tiere verschiedenster Sorten und viele Arten von Geistern. Selbst Städte können sich dort befinden. Vielleicht gibt es vor dem Eingang des Totenreiches einen Ort, an dem ein Wächter Opfer verlangt oder einen Kampf fordert. Das Zwielicht ist eben nicht ein rosarotes Traumparadies sondern Ursprungsort vieler Mythen.
Innerhalb ihrer schamanischen Laufbahn werden Sie immer wieder sehr intime Informationen über sich, ihre Verbündeten und ihre Klienten erhalten. Es ist sehr wichtig sich dabei zu vergewissern, wieviel der Informationen überhaupt anderen Menschen mitgeteilt werden dürfen. Ein Beispiel sind Namen. Ein Krafttier oder Verbündeter, der Ihnen seinen Namen mitteilt, hat ihn nur Ihnen mitgeteilt, und niemandem sonst. Falls Sie über diesen Namen nun Informationen suchen, sollten Sie, wenn die Geister weiter nichts dazu sagen, eher davon ausgehen, daß der Name ein Geheimnis darstellt. Sie können mit diesem Namen den Geist sehr schnell rufen und haben einen direkten Kanal zu ihm. Das gilt dann natürlich auch für alle anderen, die den Namen kennen. Sie sollten ähnlich mit ihrem eigenen schamanischen Namen verfahren. Ihr Gefühl kann Ihnen da ein sicherer Wegweiser sein. In jedem Fall vorher die Verbündeten erst einmal befragen, bevor Sie ihren eigenen schamanischen Namen anderen Menschen mitteilen, denn vielleicht ist er nur für die Ohren der Geister bestimmt.
Da es für den durchschnittlichen Leser durchaus ein Problem sein kann, die Realität und Eigenständigkeit des Zwielichts zu akzeptieren, hier eine kleine Übung, die ich jahrelang in meinem Trommelkreis durchführte, um Neulinge oder die Alteingesessenen davon zu überzeugen: Sie suchen ungefähr zwei Dutzend oder mehr interessante Photographien heraus und legen diese in einzelne, undurchsichtige Briefumschläge ab. Bei einer Trommelsitzung ziehen Sie einen der Umschläge, lassen ihn verschlossen und legen ihn in die Mitte des Kreises. Die Gruppe reist dann mit Krafttier usw. in die Szenerie, die auf dem Photo zu sehen ist. Eine Variante ist, eine kleine Schachtel zu verwenden, in der ein schamanisch bedeutsamer Gegenstand hineingelegt wird, der dann auch im Blindversuch angereist wird. Auf diese Weise können Sie einige Dinge nachprüfen: Inwieweit sind die Aussagen buchstäblich und inwieweit übertragen zu sehen. Sie können auf diese Weise einen schamanischen Test durchführen, wenn Sie einem etwas eingebildeteren Zeitgenossen einen Zahn ziehen möchten, und gerne wissen wollen, ob seine Behauptungen zutreffen oder nicht. Sie können auf diese Weise verborgene Fähigkeiten des Gegenstandes oder besondere Dinge des Ortes auf der Photographie schamanisch bereisen lassen, ohne die Reisenden mit Informationen vorzuprogrammieren. Ich nehme immer ungefähr dreißig Umschläge mit und lasse einen Teilnehmer einen Umschlag ziehen, der dann bereist wird. Die Thematik lautet jedesmal: Den Ort zu bereisen, der auf der Photographie im Umschlag zu sehen ist. Zusatzaufgaben könnten beispielsweise lauten: Um spirituelle oder schamanische Aspekte zu finden, um die energetischen Besonderheiten zu erkunden, um den dortigen Genius Loci zu besuchen.
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