Die Anwendung des Rollenspieles in der Magie
Von den Moralhütern der Nation gerne als "jugendgefährdend" oder als Realitätsflucht abgestempelt, sind Rollenspiele nach wie vor ein Renner und Geheimtip der jungen Generation. Für diesen Bericht beziehe ich mich auf Rollenspielsysteme, bei denen der individuelle SC (Spielercharakter) von Bedeutung ist und weniger die beste Taktik (wie bei Tabletop-Spielen o.ä.). Als Referenz dient meine intensive Erfahrung seit 1983 als Spieler und Spielleiter in verschiedenen Systemen - ich leite und spiele heute noch!
Zuerst mag es vielleicht etwas befremden, aber Rollenspiele sind ein hervorragender Einstieg in magische Grundtechniken und auch in fortgeschrittenere Anwendungen. Auch für Trainingszwecke sind sie gut geeignet.
Die Praxis des Rollenspieles gestaltet sich relativ einfach - auch wenn die Beschreibung etwas schwerer fällt. Die Spieler besitzen einen Charakterbogen, auf dem sämtliche individuellen Eigenschaften, die das jeweilige System als Determinanten des SCs vorschreibt, enthalten sind. Sämtliche "Attribute" besitzen einen Wert, wobei dieser sich innerhalb festgelegter Grenzen bewegen muß (in D&D von 3-18, in Rolemaster 1-100). Sie werden häufig mit Würfeln bestimmt, es gibt da den normalen 6er Würfel, den 4er (Tetraeder), den 8er (Oktaeder), den 10er (Dekaeder), den 12er (Dodekaeder) und den 20er (Ikosaeder) "Würfel". Mit diesen wird auch ein un(?)kontrollierbarer Faktor in den Spielablauf eingebracht - der Zufall. Auf dem Charakterbogen sind Körpergröße, Erfahrung, Name, Hautfarbe, Besitz, usw. usf. Der Spielfigur aufgelistet. Der Bogen dient dem Spieler als Anhaltspunkt und Erinnerungshilfe, wie er die Persönlichkeit des Charakters verkörpern soll und wo seine Stärken und Schwächen liegen. Spieler, die sehr lange denselben Charakter spielen, kennen diesen zum großen Teil auswendig, und sehen nur selten auf dem Bogen nach. Die Spielleiter sorgt während der Rollenspielsitzungen dafür, daß die SCs mit Situationen konfrontiert werden und bettet Abenteuer und Charaktere in eine übergreifende "Kampagne" ein, eine fiktive Welt.
Hier ist nicht der Rahmen und der Platz, Anweisungen und Tips zum Charaktererschaffen und zum jeweiligen System zu geben. Für Einzelheiten sollten die entsprechenden Basisregelwerke beschafft werden und der Kontakt zu Rollenspielern gesucht werden. Materialien zu Kampagnen werden immer neue herausgegeben und man kann eine wahre Sammelwut entwickeln (eigene Erfahrung). Die Hardware und das allergröbste habe ich beschrieben.
Die Charaktere befinden sich in einer "Welt", die - wenn sie dort gespielt werden - vom Spielleiter kurz beschrieben wird, und die sich alle Teilnehmer einer Sitzung vorstellen. Spielsitzungen dauern mitunter sehr lange. Einige Marathonsitzungen können zwanzig und mehr Stunden dauern. Während der ganzen Zeit imaginiert man sich seinen Charakter, wie er die Situationen erlebt und die "Welt" auf ihn reagiert. Kurz (im Idealfall überhaupt nicht) unterbrochen von Würfeleien oder regeltechnischen Erörterungen. Normalerweise dauern Sitzungen zwischen 3 und 7 Stunden.
Anwendungsmöglichkeiten des Rollenspieles innerhalb der Chaosmagie
Pfadarbeit
Rollenspiel ist Pfadarbeit, sogar interaktiv und kollektiv. Meistens sitzen da mindestens zwei Spieler und ein Spielleiter. Wer z.b. Cthulhu-Pfadarbeit durchführen möchte, könnte anstelle der herkömmlichen Methode ja einfach Cthulhu´s Spur spielen. Der Zugang zu Cthulhu ist dann unkonventionell. Wenn der Spielleiter sich darauf versteht, Atmosphäre zu erzeugen, kann sich da eine ganze Menge tun.
Imaginationsübung
Die Sitzungen dauern mindestens zwei Stunden. Das Spiel lebt davon, daß sich die Spieler bestmöglichst in den SC und in die Welt versetzen können und sich dort agierend vorstellen. Dies fördert Vorstellungskraft und Imaginationsgabe. Gefühle, Gerüche, Körpersensationen, Schall, optische Eindrücke gehören unter Umständen dazu, aber eher selten. Doch bei guten Spielleitern und guten Spielern ...
Durchspielen anderer Paradigmen
Ein einzelner Spieler kann natürlich mehrere SCs in verschiedenen Systemen besitzen. Zwar ist es nicht Vorschrift, doch ist es interessanter, wenn der Spieler sich dabei verschiedene Persönlichkeiten anlegt. Ein SC ist Alkoholiker, der andere eine nymphomanische Frau, wieder ein anderer ein kämpferischer Ork oder ein Elf, der Necromant ist. Hierbei stellt sich die Güte des Systems und des Spielleiters heraus, wenn ausgefallene Wahlen zugelassen werden. Das Verhaltensmuster sollte möglichst stark variiert werden, sonst gibt es weniger Übungseffekt. Spaß sollte dabei aber nicht zu kurz kommen. Zwei oder gar mehrere Charaktere zeitgleich innerhalb derselben Sitzung zu spielen, erfordert Übung und jahrelange Praxis im Rollenspiel und sollte anfangs vermieden werden.
Das Erschaffen eines unabhängigen Geistwesens
So etwas geschieht in der allgemeinen Rollenspielpraxis unabsichtlich und ist eigentlich nicht vorgesehen. Der Prozeß läuft unbemerkt ab. Irgendwann beginnt der Lieblingscharakter ein Eigenleben zu entwickeln. Zwar endet die Sache meistens damit, daß das Eigenleben den SC aus der Spielgruppe wirft (weil er immer mehr sog. Solo-Abenteuer benötigt) und der Spielleiter dem Spieler nahelegt, sich einen neuen SC auszuwürfeln. Wenn man das aber absichtlich provozieren möchte, so beginnt man mit einem Charakter und spielt ihn über längere Zeiträume, um sich mit der Persöhnlichkeit vertraut zu machen.
Das Eigenleben kann man daran erkennen, daß man sich abends im Bett z.B. Gedanken macht, was gerade in der Kampagne geschieht, oder man gelegentlich beginnt, tagzuträumen. Man kann ein so erschaffenes Geistwesen nur begrenzt kontrollieren, ist es ersteinmal weit gediehen. In normalen Rollenspielgruppen taucht dieses Phänomen seltener auf.
Invokation
Charaktere können auch nach Intelligenzen, oder Göttern oder irgendetwas in dieser Richtung, benannt werden. Es ist dabei übrigens höchst interessant, einen Spielleiter zu haben, der sich mit Magie und mit solchen Wesenheiten überhaupt nicht auskennt. Natürlich ist es auf lange Sicht aber besser, mit toleranten oder selbst praktizierenden Spielleitern zu arbeiten. Diese letztere Spezies ist aber leider sehr selten.
Ein Praxisbeispiel: Ich nannte einmal einen Charakter Achaiah (7. Genius des Schem-ham-phorasch, zur Erinnerung). Der Charakter bekam im Laufe des Spieles ein flammendes Schwert als Waffe. Einige Jahre später fand ich heraus, daß dieses flammende Schwert das Zeichen dieses Genius ist.
Besessenheitsarbeit
Im Life-Rollenspiel könnte man dieses Experiment durchführen. Die Invokation ist eine eher sanfte Methode. Im "LARP" (Life Action Role Playing) kann man den gesamten Charakter spielen, man verkörpert ihn in der Wirklichkeit. Einfach alles am Life-Spieler sollte während des "Cons = Treffens von Rollenspielern" dem Charakter entsprechen. Da fühlt man sich leicht an das Annehmen von Gottformen, oder an die Tierkostüme der Schamanen erinnert, aber die wußten oder wissen wenigstens was sie machen, was ich von der heutigen Life-Szene nur im beschränktesten Maße sagen kann. Die Grundtechnik ist aber dieselbe. Mit einem Unterschied: In einem Life flippen gleich ein Dutzend Spieler gleichzeitig aus.
Leider bin ich selbst nicht allzutief in der Life-Szene. Bei meiner magisch/schamanischen Tätigkeit bekomme ich oft genug Gelegenheit, das Krafttier oder Ahnen zu invozieren, da muß es nicht auch noch ein Life-SC sein. Durch Befragung einiger Life-Spieler und durch Beobachtung läßt sich in meinen Augen eine brauchbare Besessenheitsarbeit jedenfalls nur dann durchführen, wenn sich auf einen Con auch genügend interessierte und gute Spieler befinden - das ist dort gewöhnlich nicht der Fall.
Weitere Anregungen
Es wäre sicherlich interessant, weitere magische Techniken im Rollenspiel zu testen, z.b. Sigillenmagie oder Evokationen. Es ist übrigens sehr kraftvoll, Krafttier (Clanwesen, wem´s besser gefällt) oder irgendeine andere prominente Wesenheit aus dem Paradigma des jeweiligen Praktikers als SC zu spielen.
Gefahren
In einer herkömmlichen Sitzung gibt es natürlich keinerlei Bannungsrituale, also Vorsicht! Da dies leider auch bei Life-Rollenspielern nicht üblich ist, auf irgendeine Weise zu bannen, gilt diese Vorsicht hier umso mehr - die einzige "Bannung" ist das Ausziehen des Kostüms oder der (fiktive) Tod des SCs (beides nicht allzu wirksam, übrigens). Es gibt genug Spieler, deren Life-SC Persona ebenso im normalen Leben duchschlägt. Auch regelrechte, unkontrollierbare Fanatismen sind zu beobachten (eher selten). Zum Glück arten viele Life-Cons in "Hac-and-Slay" Prügeleien mit Polsterwaffen aus, so daß diese Gefahren eigentlich recht gering sind.
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