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Die Schamanentracht

    Schamanen im eurasischen und arktischen Kulturraum besitzen meist eine Art Arbeitskleidung. In Sibirien gibt es zahlreiche Varianten einer solchen. Jeder Stamm besitzt eigene Abwandlungen des Themas. Das Schamanenkostüm kann mehrere Funktionen erfüllen. Es kann trancefördernd sein und den Schamanen auf seinem Seelenflug beschützen. Manche Kostüme wiegen über einen Zentner und sind schwer beladen mit verschiedenen Bestandteilen, die in der Geisterwelt vor den diversen bösen Geistern schützen. Schellen und metallene Bestandteile machen bei Bewegungen des Schamanen Geräusche und fördern die Trance. Böse Geister werden von ihrem Klang vertrieben.

    Symbolisch können auf dem Kostüm die Hilfsgeister des Schamanen zu finden sein, meistens aus Metall gefertigte Amulette oder aus tierischen Bestandteilen hergestellte Anhängsel. Auf manchen Kostümen ist symbolisch ein Skelett zu erkennen, das die Fähigkeit zur Wiedergeburt des Schamanen symbolisieren kann. In Europa ist nur wenig über die alten Schamanengewänder überliefert. Ein Rest ist das Schellengewand des Zirkusclowns. Der Hofnarr im Mittelalter ist eine weitere Spur des alten Schamanentums. Da es keine Traditionen mehr gibt, ist es dem in westlichen Kulturen lebenden Schamanen natürlich freigestellt, den Geistern zu folgen und sich sein eigenes Schamanengewand herzustellen.

    Die Tatsache, daß in Europa kaum noch schamanische Traditionen vorhanden sind, eröffnet dem zentraleuropäischen Schamanen die Chance, seine eigenen Utensilien, losgelöst von einengenden Traditionen, zu entwickeln und in der schamanischen Praxis zu gebrauchen. Diese Chance aber birgt auch die Gefahr des Verhaftetseins in der Materie, die unbedingt erkannt werden muß. Schamanen sind keine Halbgötter oder besonders heilig. Die esoterische Szene tendiert dazu, Schamanen zu glorifizieren und zu Übermenschen zu erheben. Würde man einem sibirischen Schamanen erzählen, was in Europa alles unter dem Begriff Schamanismus läuft, dann würde sich dieser kaputtlachen oder den Kopf schütteln. Diese Tendenz paßt hervorragend zu der westlichen Verdrängungskunst und dem Kulturimperialismus.

Der Kopfschmuck

    Die Schamanentracht besteht aus vielen Einzelteilen wie der Trommel, dem Trommelschlegel, dem Schuhwerk, dem schamanischen Umhang, dem Schamanenspiegel und dem Kopfschmuck, um ein paar der bekannteren davon aufzuzählen. Der alte tuvinischer Schamane, Saryglar, der bereits zweimal Europa und die dort ansässigen Schamanen besucht hat, zeigte sich jedesmal verwundert darüber, daß wir hier keine Schamanentracht und insbesondere keinen Kopfschmuck besitzen. Er ermunterte die Zuhörer, sich einen solchen anzulegen, da er ein praktisches Hilfsmittel sei.

    Im Folgenden nehme ich Bezug auf eine der drei Formen des Kopfschmucks, dem Stirnband, das im Schamanismus der Tuva verwendet wird. Kappe und Krone sind zwei weitere Formen des schamanischen Kopfschmucks, wobei die Krone eigentlich eine Variante des Stirnbandes ist. Einen Kopfschmuck findet man fast überall in den schamanischen Kulturen der Welt. Besonders bekannt ist natürlich auch die nordamerikanische Variante des Kopfschmucks, der allerdings nichts mehr mit dem schamanischen Kopfputz gemein hat. Der Kopfschmuck ist ein sehr vielseitiges Werkzeug. Abgesehen davon, daß ein schamanischer Kopfschmuck auch etwas fürs Auge ist und einiges hermacht, sind in ihm vielerlei Funktionen versteckt. Eine der Hauptfunktionen kann es sein, deutlich zu machen, wann der Schamane schamanisiert, und wann nicht.

    Den Kopfschmuck kann man als Gegenstand ähnlich betrachten wie die schamanische Trommel. Solange getrommelt wird, findet die schamanische Reise statt. Sobald aufgehört wird und das Rückholsignal geschlagen wird, endet die Reise. Solange ein Schamane seinen Kopfschmuck trägt, schamanisiert er. Sobald er ihn ablegt, kehrt er zur alltäglichen Persönlichkeit zurück und schamanisiert nicht mehr. Mit dem Anlegen der gesamten Schamanentracht oder des Kopfschmucks verwandelt sich der Schamane in die Gestalt seines Tieres. In den verschiedenen Traditionen Sibiriens sind dies beispielsweise: Adler, Hirsch oder Eule.

    Je nach Tradition können sich Abbildungen und Symbole verschiedener Verbündeter des Schamanen auf dem Kopfschmuck befinden. Als wichtiges Element seien hier noch Darstellungen von Augen oder anderen Teilen des Gesichtssinns erwähnt. Sie symbolisieren die Augen, Ohren, Mund etc. der anderen Wirklichkeit, mit denen der Schamane das Zwielicht wahrnimmt. Auf der Stirnseite befindet sich am Ort des dritten Auges oft ein Metallplättchen, oder etwas ähnliches. In meinem persönlichen Fall ist es die Darstellung eines Drachens, der auch Schutzfunktion besitzt.Photo by D.A. Klemenc; 1903

    Eine weitere Funktion wird immer wieder symbolisch durch Federn dargestellt. Die Federn stehen für die Fähigkeit, den Seelenflug durchführen zu können. Da in schamanischen Reisen Flugerlebnisse zur Tagesordnung gehören, ist ein verständlicher und leicht nachvollziehbarer Gedanke, dies in Form von Federn symbolisch darzustellen. Die Federn haben jedoch noch eine weitere Funktion: Sie stellen die direkteste Verbindung zur Tiermutter des Schamanen her, die in Sibirien oft als adlerartig beschrieben wird. Besonders lange Federn oder symbolische Hörner dienen auch als Antennen, das wurde mir von Saryglar erklärt. Auch nimmt der Schamane während der Seelenreise die Gestalt des Tiergeistes seiner Ahnen an, äußerlich ist das sowohl am Kopfschmuck als auch an der übrigen Tracht oft sehr deutlich zu erkennen.

    Der Kopfschmuck kann auch als tranceförderndes Instrument verwendet werden. Abgesehen davon, daß sich der Schamane durch das wiederholte Anlegen des Kopfschmucks bei schamanischer Arbeit auf diese (unbewußt) immer besser einstellt, kann auch eine handfeste Tranceinduktion damit erreicht werden. Fransen vor dem Gesicht erzeugen bei Bewegung eine Art primitives Stroboskop und damit einen optischen, trancefördernden Reiz. Manchmal hängen auch Schellen am Kopfschmuck. Sie vertreiben einerseits böse Geister, die generell Lärm und Krach nicht besondern lieben, und fördern durch das Gebimmel die Trance des Schamanen.

    Die Schutzfunktion des Kopfschmucks ist vielseitig. So dienen Federn von Nachtgreifvögeln dazu, den Schamanen in der Nacht zu beschützen - durch den Nachtgreifvogel, während die Taggreifer schlafen. Die Federn des Adlers schützen den Schamanen untertags oder während des Schamanisierens. Interessanterweise funktioniert der Schutz auch, wenn der Schamane sich weit von seinem Kopfschmuck entfernt aufhält. Der Schmuck schickt eine Warnung an den Schamanen, wenn in seiner (des Schmucks) Nähe etwas geschieht, das Probleme verursachen könnte.

    Ein weiteres Element des Kopfschmucks sind symbolische Darstellungen der schamanischen Kosmologie. So können - je nach individueller Mythologie - Teile des Schmucks die Anzahl der Himmel oder Unterwelten darstellen. Zwei Bögen, die sich in der Mitte kreuzen, können symbolisch für die vier Himmelsrichtungen oder die vier Jahreszeiten stehen. In meinem eigenen Kopfschmuck sind die 24 Runen des älteren Futhark eingearbeitet, neben dem Eiskristall, der die neun Welten des Weltenbaumes Yggdrasil darstellt. Iormungand, die Weltenschlange, ist symbolisch dreimal vertreten. Diese Elemente variieren sogar in den einzelnen schamanischen Kulturen sehr stark, in unserem modernen Kontext ist diesbezüglich noch weit mehr Freiraum vorhanden als in den schamanischen Kulturen Sibiriens. Warum nicht eine symbolische Darstellung der Blume des Lebens, oder quantenphysikalische Zusammenhänge, die DNS ...

    Im tuvinischen Schamanismus besitzt ein Schamane zwei Kopfschmucke. Einen für das normale Schamanisieren. Den trägt er öffentlich, die Abbildungen und Museumsstücke sind zumeist diese Form des Kopfschmucks. Es gibt einen zweiten, den Schamanen für schwarze Arbeiten tragen. Der schwarze Kopfschmuck ist speziell für den Kampf gegen andere Schamanen gedacht und kommt nur selten zum Einsatz. Das zeigt, daß Schamanen auch nur Menschen sind, die ihre negativen Seiten besitzen. Das wird bei heutigen Schamanisten hier in Deutschland und Umgebung immer wieder gerne mal übersehen.

    In unserer Kultur ist kein schamanischer Kopfschmuck überliefert. Wir können daher viel aus der tuvinischen und auch den anderen schamanischen Traditionen lernen. Schamanen haben in der Regel nichts umsonst angefertigt. Zwar spielen in diesen Dingen auch die Traditionen eine gewichtige Rolle (manchmal buchstäblich), doch steckt hinter dem Kopfschmuck durchaus auch eine Arbeitserleichterung, losgelöst von den jeweiligen Traditionen. Diese können wir uns zunutze machen und für unsere eigene Arbeit entdecken. Sie können ihre Verbündeten darum bitten und befragen, ob Sie sich selbst einen Kopfschmuck anfertigen sollen oder dürfen. Lassen Sie sich dabei sämtliche Dinge genau erklären - an einem schamanischen Kopfschmuck besitzt alles irgendeine Bedeutung, sogar die Anzahl der verarbeiteten Federn. So wird der Kopfschmuck zu einem extrem vielseitigen und individuellen Werkzeug. Der Kopfschmuck sollte nach den Maßgaben der Geister gefertigt und geweiht werden. Es macht durchaus auch Sinn, eigene Mumia mit einzuarbeiten. Es kann einige Jahre dauern, bis Sie wirklich einen Kopfschmuck ihr Eigen nennen können, die Arbeit und die Geduld ist es wert. Ein letztes, aber nicht unwichtiges Wort zum Thema Kopfschmuck in unserer Zeit und Kultur: Er ist sicher nicht not-wendig. Er erleichtert aber das Arbeiten ungemein und es macht auch eine Menge Spaß und Freude, einen schamanischen Kopfschmuck zu gebrauchen. Der eigene Kopfschmuck kann auch rein äußerlich sehr schlicht sein und dennoch sämtliche Funktionen in sich vereinen.

Die schamanische Kleidung

    Wie Sie leicht herausfinden können, besitzen Schamanen in den traditionellen schamanisch orientierten Kulturen eine Schamanentracht. Ein Gewand, welches Sie anlegen, wenn Sie schamanisieren. Innerhalb der modernen Variante ist diese sinnvolle Erweiterung des schamanischen Werkzeugkastens noch nicht besonders oft zu sehen. Eine der wenigen Ausnahmen kenne ich persönlich, die "Weiße Eule" und natürlich ich selbst. Ähnlich wie der Kopfschmuck ist das Schamanengewand eine Repräsentation der Kosmologie und der Verbündeten des einzelnen Schamanen. Es gibt genausowenig eine allgemeine Richtlinie über die genaue Zusammensetzung wie beim Kopfschmuck. Über die Funktionen jedoch kann ich Ihnen etwas mitteilen. Sicher sind Ihnen in unserem Kulturkreis diverse Uniformen und Kleidungsordnungen bekannt. Je nach Beruf oder Aufgabe gibt es verschiedene Formen davon. Im Alltag begegnen ihnen Polizeiuniformen, Arztkittel, priesterliche Roben und Talare. Handwerker tragen häufig genug die sprichwörtlichen Blaumänner, auf denen das Firmenlogo prangt. Im Schamanentum tragen Schamanen aus ähnlichen Gründen ein Schamanengewand, wobei neben einer professionellen, nach außen gezeigten, Identifizierung mit dem Schamanenamt auch magische und schamanische Funktionen mit dem Gewand verknüpft sind. Innerhalb der traditionellen Magie in Europa hat sich als Überrest die magische Robe gehalten, die bis heute ein Bestandteil der magischen Ausrüstung ist.Paiska, Khakassian Shaman

    Ein solches Gewand sollte, mindestens zu einem Teil, vom Schamanen selbst angefertigt werden. Es wird zwar nicht verlangt, daß er die Wolle selber webt dafür, aber es sollte eine gewisse magische Bindung und ein gewisser Aufwand mit der Herstellung des Gewandes verknüpft sein. Betrachten Sie bitte das Schamanengewand als eine Art optionales Werkzeug. Die Schamanerei funktioniert auch ohne diese Äußerlichkeit. Wenn Sie sich ein Schamanengewand anfertigen sollten, weil das von ihren Geistern erwartet wird oder Sie in einer Tradition verwurzelt sind, die das von ihnen erwartet, ist es an sich relativ einfach, an die notwendigen Informationen zu gelangen. Sie fragen ihre Geister oder ihren Lehrer, wie Sie es bewerkstelligen sollen und was alles dazugehört.

    Neben der Repräsentation der Kosmologie des Schamanen ist, von der Funktionalität her betrachtet, noch einiges mehr möglich. Das Gewand hat eine automatische Schutzfunktion, es ist wie ein energetischer Panzer, den Sie anlegen, bevor Sie zu schamanisieren beginnen. Gleichzeitig verlassen Sie ihr normales, profanes Leben und werden zu dem Mittler zwischen den Welten, dem Schamanen, der zwischen den Welten reist. Diese Reisefähigkeit kann beispielsweise durch Fransen an den Ärmeln symbolisiert werden, sie können symbolisch für Federn stehen. Abbilder oder Amulette ihrer Verbündeten werden am Gewand sichtbar befestigt oder aufgemalt. Vielleicht findet nur ihr Hauptverbündeter, wahrscheinlicher aber die gesamte Bandbreite ihrer Verbündeten, Platz auf dem Gewand. Einige Gewänder haben auch Schellen und metallische Teile als akustische Unterstützung eingearbeitet. Diese Schellen und Amulette erzeugen eine Geräuschkulisse, wenn sie bewegt werden. Damit können natürlich unter anderem auch weniger wohlgesonnene Geister vertrieben werden, die eine Abneigung gegen ein solches Geräusch hegen. Der Schutzaspekt kann sich durch reflektierende Spiegel oder vergleichbare Symbole im Gewand manifestieren.

    Bei dem Gewand wie beim Kopfschmuck sollte Ihnen klar sein, daß darin nichts ohne Sinn oder Bedeutung ist. Je nachdem, wie weit Sie gehen wollen, können sie auch ein spezielles Schuhwerk, spezielle schamanische Hemden und Handschuhe anfertigen, die allesamt neben dem Kopfschmuck Bestandteil des kompletten schamanischen Gewandes darstellen. Machen Sie sich bei sämtlichen dieser Objekte bewußt, welche Funktionen sie haben, wie sie im Zwielicht aussehen, wie sie in welcher Reihenfolge angelegt werden müssen, welche besonderen Regeln ihnen die Geister dazu mitgeben und wie Sie sie korrekt aufbewahren.

    Das Schamanengewand ist, im Gegensatz zu normalen Kleidungsstücken oder Uniformen, sehr viel "lebendiger". Im Laufe der Zeit werden Sie bemerken, daß Sie Erweiterungen einbauen, Teile davon verändern, aktualisieren oder verbessern. Das Schamanengewand verändert sich mit Ihnen und ihrer Arbeit im Verlauf ihrer Entwicklung. In schamanischen Kulturen wurde das Schamanengewand oft neben der Trommel dem verstorbenen Schamanen mit auf seine letzte Reise gegeben. Überlegen Sie, was damit im Falle ihres Todes geschehen soll. Das ist eine Fragestellung, die in unserer Kultur durchaus schwierig zu lösen ist. Wenn Sie innerhalb ihrer Familie niemanden als Nachfolger besitzen, müssen Sie entweder noch zu Lebzeiten dafür eine Lösung finden, oder eine solche testamentarisch verfügen. Wenn eine Entladung oder Zerstörung ihrer Utensilien zu Schade ist, müssen Sie dafür sorgen, daß sie angemessen bestattet oder in kompetente Hände gelangen.



Altaische Schamanin: Photo von D.A. Klemenc, 1903; Russisches Ethnographisches Museum, St. Petersburg.
Khakassischer Schamane: Photo evtl. von Atturi Kannisto, zwischen 1901 und 1906.

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